Coronabedingter Niedergang der Textilindustrie – kein Mitleid!

Auf den ersten Blick ein echter Horrorbericht: die Textilindustrie muss aufgrund der Pandemie, und den geschlossenen Läden, im großen Stil Kleidung vernichten, weil diese nicht verkauft wird. Mein Mitleid hielt sich ganze zwei Minuten, bis ich angefangen hatte, darüber nachzudenken!

 

Das weinerliche Gejammer der Textilindustrie ist entweder extrem ignorant oder einfach nur extrem kurzsichtig; ja fast schon dumm. Ich dachte wirklich, ich höre nicht richtig, als ich die Begründung für das Vernichten der Kleidung vernahm: die Kleidung kann nächste Saison nicht mehr verkauft werden, weil sie dann nicht mehr zeitgemäß und modern sein wird. Wie bitte? Nochmal bitte: weil sie nächste Saison nicht mehr modern ist? Ich konnte nicht fassen, dass sie sich erdreistet haben das so zu formulieren. Es ist ja nicht so, als ob das was "modern" ist und was nicht, Zufall wäre, oder als ob das von Gott oder der Natur gelenkt würde. Das sind doch Vorgaben die sich diese Industrie selbst geschaffen hat!

 

Aktuell bekommt die Textilindustrie einfach ihre bittere Medizin selbst zu schlucken. Jahrzehntelang haben sie uns Kleidung verkauft, die sie uns nach 1-2 Jahren wieder aus unseren Schränken gerissen haben, obwohl sie noch gut war. Mit der Begründung, dass wir damit nicht mehr modern wären. Jahrzehntelang haben wir tonnenweise gute Kleidung weggeworfen die zu Lappen für die Industrie verarbeitet wurde. Wir als Bürger haben Milliarden an Geld in unseren Kleiderschränken hängen gehabt, welches wir aufgrund des Modediktats aus Paris und Mailand "gezwungen" waren wegzuwerfen. Und es ist ja nicht so, dass Textilien per se verderblich wären. Warum sollte man also den aktuellen Lagerbestand nächstes Jahr nicht verkaufen können? Dies ist mitnichten mit den Wehklagen der Landwirte zu vergleichen, denen wegen Einreiseverboten für die Erntehelfer die Zeit davon lief und währenddessen das Gemüse auf den Felder verdorben ist. Die Kleidung in den Lagern der Textilindustrie könnten problemlos noch ein Jahr ausharren um dann verkauft zu werden.

 

Das Problem ist doch ein ganz anderes: diese Industrie ist noch perverser organisiert als es die Autoindustrie je war. Ich würde sie als eine der perfidesten Industrien überhaupt bezeichnen. Nicht nur, dass dieses "Modediktat" uns immerzu anleitet in regelmäßigen Abständen gute Kleidung auszusortieren um sich neu zu stylen. Nein, diese Industrie verkauft ohne Rücksicht Artikel die, gemessen an anderen Industrien, jegliche Standards vermissen lassen. Ein für den "Sale" extra billig hergestellter Artikel, der nach dem ersten Waschgang völlig an Form und Farbe verliert, wäre mit einem Auto vergleichbar, das nach dem ersten Tanken in die Werkstatt müsste. Um diesen billigen Dreck überhaupt herstellen zu können, ist der Produktionsstandort Deutschland von vornherein disqualifiziert, denn mit Tariflöhnen wäre dies zu den Discountpreisen eines "Winterschlussverkaufs" wirtschaftlich unmöglich. Nach neusten Erkenntnissen trifft dies auch für einen großen Teil der Artikel, die in den Outlets verkauften werden, zu. Diese Artikel sind den Verkäufern aus den Own-Retails, die mit den Kollektion der letzten Jahre vertraut sind, oftmals gar nicht bekannt. Diese Artikel sind nämlich keine Retail-Rückläufer, sondern abgespeckte und billig hergestellte Derivate aus der Serienproduktion, die mit den Kollektionen nicht mal ansatzweise mithalten können. Sie werden, direkt von der Fabrik in die Outlets geliefert ohne je einen normalen Laden von innen gesehen zu haben. Da wird dem Kunden seit Jahrzehnten von dieser Industrie das Geld für minderwertigen Schund aus der Tasche gezogen und ganze Länder dafür ausgebeutet. Und die Industrie stielt sich hier schon viel zu lange aus der Verantwortung. Im Gegenteil, trotz des Preisdiktats wird die Verantwortung für die unmenschlichen Bedingungen der Näherinnen auf die Hersteller in Fernost abgewälzt.

 

Wenn die Industrie die aktuelle Pandemie als Problem betrachtet, weil ihre Artikel nächstes Jahr nicht mehr modern sein sollen, dann ist es mir einfach zu fadenscheinig, die Einstellung der Kunden dafür verantwortlich zu machen. Zu behaupten, der Kunde würde diese Artikel nicht mehr annehmen weil sie outdated sind, kann man nur gelten lassen, wenn man im gleichen Atemzug auch anerkennen würde, dass diese Industrie uns dieses Verhalten selbst anerzogen hat. Klarer Fall von "Die Geister die ich rief"!

 

Ich möchte hierbei ausdrücklich die Firma Trigema ausnehmen, da deren Firmenpolitik seit Jahrzehnten auf Nachhaltigkeit und den Produktionsstandort Deutschland ausgerichtet ist. Der Inhaber Wolfgang Grupp ist seit jeher ein Paradebeispiel für erfolgreiches Wirtschaften, Verantwortung und Qualität. Ich denke, dass dadurch sein Geschäftsmodell weniger beiträchtigt sein dürfte, als z. B. das der Modeketten aus Schweden. Für alle anderen wäre die einfachste Strategie dieses Problem zu umschiffen, endlich die überkandidelten Designer in den Mode-Metropolen zur Vernunft zu bringen und dieses unethische Verhalten massiv einzubremsen. Das hätte die Industrie selbst in der Hand. Dann sind diese Klamotten auch nächstes Jahr noch chic.

 

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