Woran liegts?

Mit schöner Regelmäßigkeit wählen die Deutschen ihr Unwort des Jahres. Ich gebe zu, dass ich viele der Unworte der letzten Jahre nicht mal kannte, bevor sie in diesem Zusammenhang bekanntgegeben wurden. Ich wähle jetzt für mich das Unwort der Pandemie und ich erkläre auch gerne warum: Social Distancing.

 

Wir Menschen sind keine Hamster. Diese kleinen putzigen Tierchen sind gar nicht so putzig wie sie aussehen. Im Gegenteil, sie können gegen alles und jeden sehr rabiat vorgehen. Warum? Weil sie Einzelgänger sind. Hamsterdamen lassen sich vom Männchen besamen und sofort nach dem Akt wird er fortgejagt. Widersetzt er sich, kann er das schonmal mit dem Leben bezahlen. Gleiches gilt für den Nachwuchs. Ist dieser alt genug muss er den Bau verlassen, weil die Mutter sonst extrem brutal dafür sorgt, dass ihre Kinder nicht wieder zurückkehren. Sicherlich wäre es für eine Hamsterdame kein Problem sich dem Social Distancing zu fügen. Dabei ist dieser Begriff ein Oxymoron - ein zusammengesetztes Wort aus zwei absoluten Gegensätzen – aus dem altgriechischen oxys (scharfsinnig) und moron (dumm). Das passt in sich nicht zusammen.

 

Der Begriff sozial entstammt dem lateinischen socialis was soviel bedeutet wie gemeinschaftlich und barmherzig. Der Mensch ist von jeher ein soziales Wesen. Das erkennt man allein schon daran, dass die Menschheit sich stets zu Gesellschaften zusammengefunden hat; und das zu jeder Zeit und parallel an allen Orten der Welt. Zwar waren die Kulturen immer relativ unterschiedlich aber eines hatten sie immer gemein: sie haben erkannt, dass der Mensch es nicht alleine schaffen kann, sondern nur zusammen mit seinen Mitmenschen. In der Gesellschaft und Gemeinschaft, egal wie groß oder klein, suchte der Mensch nach Nähe, Wärme und Mitgefühl um in der Sicherheit mehr oder weniger seinen "Seelenfrieden" zu finden. Das fand er dann auch im direkten Kontakt, im zusammen leben und zusammen sterben. Das zeigt bei genauerer Betrachtung wie pervers der Bergiff Social Distancing ansich ist. Er ist nämlich maximal unerfüllbar. Auch wenn Virologen dies als wichtigstes Werkzeug im Kampf gegen die Pandemie beschwören, werden die Auswirkungen davon doch sträfllich übersehen. Denn es geht immer nur eines von beiden – entweder sozial oder distanziert.

 

Die erste Maßnahme um diese Distanz herzustellen war die Abstandsregel. Familien wurden auf Abstand geschickt. Großeltern sahen ihre Enkel und auch ihre Kinder nicht mehr. Renter in Pflegeheimen bekamen plötzlich keinen Besuch mehr und Arbeitskollegen wurden dazu verdonnert Meetings über Teams abzuhalten. Gleiches galt für die Schüler in den Schulen deutschlandweit, die ihre Mitschüler nur noch stark verpixelt auf den Split-Screens ihrer Heimcomputer sahen. Man redete sich ein, dass dies doch auch sehr gut funktioniere. Aber stimmt das? Ist das wirklich das Gleiche wie seinen gegenüber zu sehen, zu riechen und ihm tief in die Augen zu sehen um wirklich Empathie zu entwickeln? Keineswegs. Bei Videocalls fehlt eine der wichtigsten Komponenten in unserem sozialen Gefüge: der Blickkontakt. Wir haben in den letzten zwei Jahren zwar gelernt, dass das Gegenüber doch auf dem Bildschirm zu sehen wäre, aber keiner hat anscheinend bemerkt, dass er mit keinem dieser Gesprächspartner je Blickkontakt hatte, geschweige denn ihm tief in die Augen sehen könnte. Das ist technisch auch nicht möglich. Denn ich blicke beim Videcall auf das Bild des Gesprächspartners – die Kamera mit der ich selbst gezeigt werde, und in die ich eigentlich blicken müsste, ist weit darüber. Genau wie ich selbst blickt mein Gesprächspartner also auch nicht direkt in meine Richtung, sondern immer gesenkt nach unten. Das mag für manchen erstmal keinen Unterschied machen, denn man sieht sich doch. Aber die Augen werden sich niemals treffen. Nur jemand der weiss wie es sich anfühlt wenn sich die Augen treffen und man sich tief in die Augen blickt, der weiss was in dem Moment passiert, wenn sich die Augen plötzlich "verbinden". Sich in die Augen zu sehen ist kein belangloses Beiwerk einer Unterhaltung, sie ist soviel mehr. Sich in die Augen zu sehen hat auch nicht nur eine aktive Komponente, nämlich den anderen dumm anzuglotzen. Nein, die weitaus wichtigere Komponente ist das Passive. Man lässt es nämlich zu, dass einem jemand in die Augen sieht, und dabei öffnet man sich auch für den Anderen. Und da ist es völlig egal wie lange das dauert, ob das bei einem Gespräch von zwei Verliebten passiert, oder mit einem kurzen flüchtigen Blickkontakt mit dem Gegenüber in der U-Bahn. Erst dieses Öffnen macht es für uns als Mensch möglich, Empathie für den anderen zu entwicklen. Es gibt also soziale Aktivitäten die für uns essentiell sind, die wir nicht virtuell oder am Telefon erfüllen können – nicht so wie wir als soziale Wesen dies für unsere Seelen benötigen.

 

Social Distancing ging aber noch einen Schritt weiter. Wir ließen Menschen die krank waren in Kranknehäusern alleine. Vor Corona waren sich Mediziner stets einig, dass Kranke ihre Angehörigen für die Genesung benötigen. Dass deren bloße Anwesenheit, deren Stimme, deren Berührung dem Heilungsprozess zuträglich war. Dieses Gefühl, nicht alleine zu sein, wich plötzlich einer sterilen Einsamkeit. Im schlimmsten Falle starben diese Menschen sogar allein, und selbst auf den Beerdigungen waren zeitweise nur in begrenztem Umfang Trauernde erlaubt. Nun ist Sterben aber leider kein Fußballspiel des FC Bayern. Wenn Fußballspiele eine Zeit lang ohne Zuschauer stattfinden (was ich auch für falsch halte), könnte man noch sagen, naja, die Stadionbesuche holen wir halt nach, wenn es wieder erlaubt ist. Eine Wiederholung beim Sterben gibt es eben nicht. Der Tod ist ultimativ und nicht wiederholbar. Durch Social Distancing wurden Menschen einer Erfahrung und eines Abschlusses beraubt, den sie nie wieder nachholen können. Und dies, nicht weil der Tod plötzlich bei einem Unfall eintrat. Nein, man wusste ja zu jeder Zeit wo der Erkrankte war, nämlich im Krankenhaus und man hätte den jenigen auch besuchen können und wollen, durfte es aber nicht. Das sind Tatsachen mit denen diese Menschen weiterleben müssen. Alleine schon aus diesem einen Grund hat der Begriff Social Distancing seinen Namen nicht verdient. In dem man das Social in diesen Begriff eingefügt hatte, haben sich die Entscheider versucht selbst zu narkotisieren und wollten sich nicht eingestehen, dass ihre unmenschliche Anordnung das krasse Gegenteil von sozial ist. Sie ist von oben angeordnete soziale Verrohung. In diesem Begrifft steckte zu keiner Zeit drin, was aussen draufstand.

 

Man mag mir jetzt unterstellen ich dramatisiere unnötig und würde hier Maßnahmen kritisieren, die zwingend nötig waren. Dem möchte ich mit der Frage entgegnen, wie es sein kann, dass wir während der Pandemie zusehen konnten wie die Menschen die Empathie für einander verloren haben? Wie es sein kann, dass sich Menschen innerhalb von Familien so weit voneinander entfernt haben, weil die Einen geimpft und die Anderen ungeimpft waren? Wie es sein kann, dass Menschen auf die Straße gehen und gegen "Die Anderen" wettern und sogar aggressiv werden? Wer diese Verrohung in der Gesellschaft nicht wenigstens zum Teil mit den sozialen Entwicklungen durch Social Distancing in Verbindung bringt, der ist blind für die Realität.

 

Ich gehe sogar weiter, und frage ob wir in der Lage gewesen wären, so wenig Empathie zu spüren, wenn wir uns viel öfters direkt in die Augen hätten blicken dürfen? Ich frage gerne noch direkter: Wem stoße ich leichter den Dolch in den Bauch, dem jenigen mit dem ich jeglichen Blickkontakt vermeide um auszublenden, dass da ein verletzlicher Mensch vor mir steht, oder dem jenigen dem ich im Moment des Zustechens tief in die Augenblicke? Es ist für die Verantwortlichen in der Pandemie natürlich viel leichter die gesamte Verantwortung bei den sich radikalisierenden Gruppen abzuladen und die eigene traurige Rolle darin komplett auszublenden. An den Tatsachen ändert das herzlich wenig.

 

Ich bleibe dabei, dass das Etablieren des Social Distancing eine unserer größten Verfehlungen war. Jens Spahn meinte zu Beginn der Pandemie wir würden uns nach der Pandemie viel verzeihen müssen. Ein Zeit lang war ich seiner Meinung. Heute weiss ich wir werden uns für noch mehr schämen müssen – und ganz besonders dafür.

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Kommentare: 1
  • #1

    Markus (Montag, 10 Januar 2022 11:36)

    Mal wieder perfekt auf den Punkt gebracht!